20 Juni 2006

 

Leeres Orchester

So könnte man Karaoke auf deutsch übersetzen, kara heißt leer und oke íst eine Abkürzung von okesutora (Orchester); leeres Orchester, weil der Sänger fehlt.
In Japan über Karaoke zu schreiben, ist nicht sonderlich originell - da es aber trotzdem eine kuriose neue Erfahrung war, als wir uns neulich endlich mal getraut haben, werde ich es Euch nicht ersparen.
Wir waren mit einem befreundeten Ehepaar da, das über dreißig Jahre in Deutschland gelebt hat, und einer Japanerin und einer Engländerin.
Karaoke spielt sich hier in extra dafür eingerichteten Etablissements ab, in denen man stundenweise eine sogenannte Karaoke-Box mieten kann, ein abdunkelbares Zimmer mit Platz für 6 - 7 Personen und einer großen Fernseh- und Videoanlage in der Ecke. Man geht hier mit dem engeren Freundeskreis hin, gerne auch nach einem Essen oder einer Party. Oder einfach so, auch alleine oder zu zweit (angeblich sind die schallgedämpften Boxen auch beliebt für ungestörte Aussprachen bei Beziehungsproblemen). Die erste Stunde lang sind Freigetränke im ohnehin schon lächerlich geringen Preis inbegriffen. Es ist mir schleierhaft, wie man damit Gewinn macht, zumal sich fast alle mit Bier (an dem sich Jakob hier festhält und das hier sonst richtig teuer ist) die Kehle schmieren. Aus einer Liste, dicker als das Telefonbuch von Tokyo, sucht man sich die Titel aus, erstaunlich viele englische und sogar ein paar deutsche (Dschingis Kahn und 99 Luftballons), französische und spanische sind dabei.
Etwaige Hemmungen klangen schnell ab, zumal wir die ersten Lieder gemeinsam im Chor schmetterten, wobei Herr Terai auch ohne Mikrophon uns alle übertönte. Er ist ein begeisterter und sehr guter Sänger und übt (in der Karaoke-Box), wann immer er kann.
Praktischerweise kann man bei zu hoher oder zu tiefer Tonlage das Video per Fernbedienung an die eigene Tonlage angleichen, man kann es auch beschleunigen oder abbremsen. Und als Clou wird zum Schluß jedes Videos die beim Singen verbrauchte Kalorienanzahl eingeblendet; das höchste, was wir schafften, war um die zehn - da muß man schon ein paar Dutzend Lieder singen, um allein das erste Freibier wieder abzubauen, ganz zu schweigen von der später über Haustelefon georderten Pizza, die die beste war, die ich bisher in Japan gegessen habe.
Jakob fand das Ganze klasse. Er hatte ein paar von seinen Lieblingsautos dabei, mit denen er im Rhythmus spielte, tanzte manchmal auch ein paar Schritte oder verfolgte das Geschehen im Begleitvideo, wenn es Autos, Flugzeuge oder sonstige Dinge, die er kannte, zu sehen gab.
Als dann die Japanerin zu einem langen, gefühlvollen japanischen Lied anhob, daß sie wirklich sehr gekonnt sang, ließ er alle anderen Aktivitäten ruhen und wandte kein Auge mehr von ihr ab, sie scheint ihn wirklich sehr beeindruckt zu haben. Vor lauter Begeisterung hielt er bis zum Schluß durch, drei Stunden später, als er normalerweise ins Bett geht.

Ein paar Tage später waren wir dann tatsächlich nochmal alleine da, zum Üben und um neue Lieder auszuprobieren, ohne uns zu blamieren. Diesmal war es helllichter Tag (zwölf Uhr mittags am Samstag), und fast alle Boxen waren belegt! Wir blieben dann nur eine Stunde, weil wir uns über die zu singenden Lieder nicht recht einigen konnten und Thomas das Ganze immer blöder fand. Und diese Stunde kostete inclusive Getränke ... 200 Yen, nicht zu fassen! Ich bin fest entschlossen, bald mal wieder hinzugehen, dann aber alleine, dann braucht man sich nicht zu genieren oder bei der Liedauswahl auf andere Geschmäcker Rücksicht zu nehmen. Und ich kann jetzt sehr gut verstehen, warum Karaoke hier so populär ist!

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