20 April 2006
Gefährliches Leben, gefährliche Welt
Diese anschauliche Warntafel steht am Flußufer unterhalb eines Stausees in den Bergen und warnt vor Wasserablassung aus dem See: "Sirene! Wasser kommt, schnell ans Ufer gehen!" Die Flutwelle sieht ja auch wirklich sehr gefährlich aus, das ist doch mal eine richtige Gefahrensituation!
Aber auch sonst ist das Leben japanischer Kinder voller Gefahren. Deshalb ist das Wort, das sie von frühester Kindheit an am häufigsten hören, sicherlich "abunai!" - gefährlich.
Wenn sie auf ihrem Roller mehr als drei Meter von ihrer Mama wegfahren - abunai!
Wenn sie auf der einen Meter langen Plastikrutsche auf dem Bauch rutschen wollen - abunai!
Wenn sie sich einem gefluteten Reisfeld auf fünf Meter nähern - abunai!
Ganz zu schweigen von Straßen und Autos: das Sträßchen, das an unserem Haus vorbei führt, wirdwirklich wenig und langsam befahren, ich glaube, ein Kind hätte kaum eine Chance, sich hier überfahren zu lassen, selbst wenn es alles drauf anlegen würde; aber ein Schritt in diese Richtung - abunai, abunai, abunai!! Und wenn tatsächlich in der Ferne ein Auto auftaucht, springen die Mütter herbei, reißen ihre Kinder (die meist schon von selbst auf dem Weg dorthin sind, sie sind ja nicht blöd) an den Straßenrand, halten es dort schützend umfaßt - abunai, abunai, abunai!!
Wie soll man da lernen, auf sich selbst aufzupassen, Risiken abzuwägen und sie dann vielleicht sogar einzugehen?
Das wird dem einzelnen in der hiesigen Gesellschaft weitgehend abgenommen. Bzw. im öffentlichen Raum wird man so behandelt, als sei man ein zweijähriges Kind.
Das führt dann dazu, daß Autos ein durchdringendes Signal von sich geben, wenn sie rückwärts fahren, Lastwagen per Lautsprecherstimme verkünden, wenn sie abbiegen, eine in die Rolltreppen integrierte Stimme verkündet, daß die Rolltrepe hier zu Ende ist und man auf seine Füsse aufpassen soll.
Schön auf den Punkt gebracht wurde das in einem anderen Japan-Blog, aus dem ich einfach mal zitiere:
Reisen unter Lebensgefahrvon AttilaWurm @ 2005-07-15 - 02:09:15
Wenn Japaner ins Ausland reisen, tun sie das meistens in Gruppen. Man nimmt auf diese Weise ein Stück Japan mit und schützt sich vor dem Abgleiten in fremde Welten...
Es ist ja auch wirklich sehr gefährlich für Japaner im Ausland. Sie sind ein begehrtes Ziel für Taschendiebe und unlautere Verkäufer, die für ihre Kunden je nach Herkunftsland verschieden hohe Verkaufspreise haben.
Aber eine ganz große Bedrohung der Japaner wird von Nichtjapanern bisher noch viel zu wenig verstanden: Die Gefährdung durch nicht gegebene Information und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen.
Beispielsweise ist es für Japaner im Ausland lebensgefährlich mit dem Zug zu fahren, denn niemand gibt ihnen dort die gewohnten und so unentbehrlichen Warnhinweise:"Vorsicht, der Zug in Richtung...fährt ein! Es ist gefährlich, treten Sie hinter die gelbe Linie zurück!""Der Zug ist überfüllt. Nehmen Sie den nächsten!""Der Zug in Richtung...fährt ab, die Türen werden geschlossen. Vorsicht, die Türen werden geschlossen!""Nächste Station: ... (es folgen die Umsteigemöglichkeiten)... Nächste Station: ... Die Türen auf der linken (rechten) Seite werden sich öffnen." (Es folgt mindestens noch einmal der Name der Station.)"Zwischen Zug und Bahnsteig ist ein Spalt. Achten Sie beim Aussteigen darauf, wohin Sie treten!"
Auf der Rolltreppe droht die nächste Gefahr. Niemand sagt: "Vorsicht, die Rolltreppe ist zu Ende. Achten Sie auf Ihren Schritt!"
Dann bemerkt man, dass man keinen Regenschirm und keinen Koffer mehr hat. Im Zug sagte niemand: "Passen Sie auf, dass Sie nichts im Zug vergessen! Nehmen Sie Ihren Regenschirm mit!"
Vor dem Bahnhof geht es weiter: Gefahren, Gefahren, Gefahren! Die Fußgängerampel schweigt, keine "melody" sagt den Leuten, wann Sie über die Straße gehen sollen. Ein Lastwagen biegt an der Kreuzung ab und schon wird ein japanischer Tourist überfahren, weil der Wagen nur blinkte, nicht aber der Warnruf ertönte: "Vorsicht, ich biege nach links ab!" Ein anderer kommt unter die Räder, weil ein rückwärtsfahrendes Auto kein akustisches Warnsignal ertönen ließ...
Wenn eine japanische Reisegruppe im Ausland ein Schwimmbad besuchen sollte (was zum Glück völlig unwahrscheinlich ist), empfiehlt es sich, vor Ort eine Intensivstation einzurichten. Man muss mit dem Schlimmsten rechnen, denn es fehlen die stündlichen Durchsagen:"Legen Sie vor dem Betreten des Bades Ihre Uhren, Halsketten, Ohrringe... ab!""Laufen Sie nicht!""Steigen Sie langsam ins Wasser!""Für kleine Kinder ist das Betreten des 25m-Beckens verboten!""Wärmen Sie sich vor dem Schwimmen auf!"
Die ganze etwa 5 Minuten dauernde Litanei von Verhaltensregeln fehlt. Da muss man ja zur Bestie werden!Und was am schlimmsten ist: Man weiß nicht, wann man wegen drohender Erschöpfung aus dem Wasser muss, anders als in Japan, wo jede Stunde alle Badenden das Schwimmbecken 10 Minuten lang verlassen müssen - "zum Schutz vor Übermüdung"!(Während dieser Schwimmpause taucht übrigens ein Badewart das ganze Becken ab. Wer findet im Ausland die ertrunkenen Japaner??)
Die letzten Überlebenden unserer Reisegruppe kommen fix und fertig in ihr Hotel zurück und - fallen aus dem Fenster, weil man es (anders als in Japan, wo die Sicherheit des Gastes an erster Stelle steht) ÖFFNEN konnte!!
Nachtrag: Neulich hatte ich im Schwimmbad Gelegenheit zum Test aufs Exempel. Ich war nämlich der einzige Badegast und traf 10 Minuten vor der Schwimmpause ein. Dass es, obwohl ich noch frisch und quicklebendig war, zur vorgegebenen Zeit eine Schwimmpause geben würde, war klar. Aber dann: Wird der Pausensermon über die Verhaltensregeln auch heruntergebetet, wenn ich die Schwimmhalle verlasse und also niemand mehr zuhören kann?Ich ging also in den Umkleideraum. Als ich in die noch immer leere Schwimmhalle zurückkam, hörte ich noch die letzten Sätze des Verhaltenskatalogs...
Die Verhaltensregeln werden also keineswegs für die Badegäste gelesen, sondern für den Badewart selbst, der sich damit als guter Badewart bestätigt. Er hätte auch gar nicht die Freiheit auf das Lesen seines Texts zu verzichten. Er würde sicher von seinem Oberen gemaßregelt werden, seine Ent-Schuldigung und sein Hinweis auf das Fehlen eines Adressaten wären für seinen Chef uninteressant und nervtötend.
(zitiert aus: http://www.blog.de/main/index.php/attila_wurm
PS von Julia: Das mit der Schwimmpause stimmt tatsächlich, das ist im Freibad von Kitakami auch so. Wir kamen einmal zehn Minuten vor der vollen Stunde dort an, Thomas stieg dann gerade ins Becken, Jakob sortierte seine Förmchen, dann gab es pünktlich um vier einen schrillen Pfiff, alle Badegäste verließen das Becken, begaben sich zu Ruhebänken, um sich zu erholen. Ich ließ Jakob am Rande des Kleinkinderbeckens mit seinem Eimerchen weiterspielen - er war ja nicht IM Becken, und ich schon gar nicht. Aber da bemühte sich einer der vier Bademeister extra zu uns her und gab uns zu verstehen, daß auch wir auf die Bänke müßten, zum Ausruhen. Dann erst verschwanden alle Bademeister in ihrem Dienstraum und kamen nachgenau zehn Minuten wieder raus. Und alle durften weiterschwimmen.
Oder weiterplätschern.
(Wie man sieht, herrscht hier auch noch Bademützenzwang).