23 April 2006

 

Text-Recycling

Vor ein paar Monaten habe ich mal einen kleinen Text über unser Leben hier für eine deutsche Zeitung geschrieben, war dann aber zu spät dran damit und es verlief sich im Sand. Damit es nicht ganz umsonst war, le voilà:

Im August 2004 erschien das Damoklesschwert über unseren Köpfen: Auf dem deutschen Arbeitsmarkt war weder für meinen Mann (Molekularbiologe) noch für mich (zu einem Afrika-Thema promovierte Ethnobotanikerin und Geoökologin) derzeit viel zu hoffen; da rief die Anfrage, ob er Interesse habe, an ein biologisches Institut in Nordjapan zu gehen, eine merkwürdige Mischung aus Erleichterung und Unbehagen hervor. Erleichterung, einstweilen doch nicht als Hartz IV-Anwärter zu enden, Unbehagen darüber, wieder einmal die Zelte abbrechen und in völliger Fremde neu anfangen zu müssen. Und dann noch mit Baby, für das gerade alle Aktivitäten – Babyschwimmen, Pekip, Krabbelgruppe usw. – in Frankfurt so schön organisiert waren. Für meinen Mann, der vor zehn Jahren schon einmal fast drei Jahre dort gelebt und seither weiterhin jährlich einige Wochen dort geforscht hatte, war Japan wenigstens kein Neuland mehr. Für mich, nach nur einer zweiwöchigen Blitzrundreise vor zwei Jahren, schon eher. Aber auch nicht der erste Neuanfang in der Fremde: aus Meersburg am Bodensee weg hat es mich nacheinander nach Paris, Bayreuth, Südportugal, Berlin, Frankfurt und Westafrika verschlagen – und überall war es schön. Warum also nicht Japan.
Als wir Ende März aus dem Flugzeug stiegen, war von den Kirschblüten, die wir uns als Frühlingsboten erhofft hatten, noch nichts zu sehen. Der Superschnellzug Shinkansen brachte uns in knapp drei Stunden (und auf die Sekunde pünktlich) 500 km weit nach Norden in unsere neue Heimat Kitakami, eine mittelgroße Industriestadt mit etwas mehr Einwohnern als Konstanz. Aber lange nicht so schön, sondern die Stadt präsentierte sich uns häßlich und kalt im Schneeregen, hier war noch Winter. Und sollte es einstweilen bleiben; bis Ende April froren wir weidlich in unserem frisch gemieteten Häuschen, dessen knapp 80m² leider auch noch fast völlig leer waren – unsere schon sechs Wochen vor der Abreise losgeschickten Möbel und Kartons schipperten noch bis weit in den Mai hinein auf dem Ozean. Ungemütlich war auch, daß es hier keine fest installierten Zentralheizungen gibt, geheizt wird statt dessen mit nach Bedarf aufgestellten Kerosinöfchen. Und bei der in Japan üblichen Leichtbauweise der nicht unterkellerten Häuser ist es schon kurze Zeit nach dem Ausschalten der Öfen schon wieder so kalt wie vorher.
Kurz, diese ersten improvisierten Wochen waren ungemütlich. Wenigstens war mein Mann von Anfang an mit seiner Forschungsstelle an dem von der Präfektur Iwate getragenen Institut mehr als zufrieden. Und ich hatte ja unseren kleinen Sohn, mit dem ich es mir so gut es eben ging zuhause gemütlich machte.



Mit der Maisonne ging es dann schlagartig aufwärts: Jede Menge neue Bekannte, sowohl aus der kleinen internationalen Community, in der fast jeder jeden kennt, als auch aus der unmittelbaren Nachbarschaft und den neuen Babyaktivitäten (ja, auch hier gibt es Krabbelgruppen und Babyschwimmen). Japan ist überhaupt ein kinderfreundliches Land, Kinder sind überall willkommen: In jedem Restaurant gibt es Kinderstühlchen, Wickeltische und Babysitze in der Toilette, in vielen Läden Spielecken. Das städtische Kulturhaus bietet zu vielen Veranstaltungen einen kostenlosen Kinderbetreuungsservice an, zu Vorstellungen im großen Saal kann man Kinder sogar mitnehmen - in einer verglasten Eltern-Kind-Loge stört es niemand, wenn sie mal einen Mucks machen. Vor allem aber freuen sich die Leute überall aufrichtig, Kinder zu sehen. Vor allem unser kleines blondes gaijin-Kind (gaijin bedeutet „Draußenmensch“, also Ausländer), von denen es hier nicht allzu viele gibt, wird überall entzückt empfangen. Er hat uns viele Türen geöffnet und sicher dazu beigetragen, daß uns die Japaner, die wir hier kennenlernten, überhaupt nicht verschlossen und abweisend begegneten, wie befürchtet, sondern mit unerwarteter Offenheit und Wärme. Natürlich erleichtert auch jedes im Sprachkurs neu gelernte Wort den Kontakt zu den Leuten – denn Englisch sprechen die meisten Leute hier kaum oder gar nicht.
Ausflüge in die grandiose Umgebung erweiterten dann ab dem Frühsommer den Horizont: Kitakami liegt in einem weiten Tal zwischen zwei sehr unterschiedlich geformten Gebirgszügen, die von malerischen Flüssen durchschnitten werden. Jenseits der Gebirge liegt jeweils das Meer – gut erreichbar für einen Tagesausflug. Und überall gibt es Onsen, die berühmten heißen Quellen, in denen man sich – idealerweise mit Blick auf eine schöne Berg- oder Flußkulisse – stundenlang durchweichen lassen kann. Japan ist ein buchstäblich heißes Pflaster, die Erdkruste ist hier sehr aktiv. Deshalb die heißen Quellen überall, die vielen aktiven Vulkan im ganzen Land, und nicht zuletzt die regelmäßigen Erdbeben. Etliche haben wir inzwischen erlebt, Stärke 1 oder 2 gibt es fast wöchentlich, 3 vielleicht einmal im Monat, und das stärkste erreichte 5,4 auf der Richterskala. Passiert ist nichts, außer einer umgefallenen Shampooflasche. Aber man gewöhnt sich auch nicht daran, zu unheimlich ist es, wenn der Boden unter den Füßen plötzlich nicht mehr fest ist. Und zu groß die statistische Wahrscheinlichkeit eines wirklich großen Bebens. Deshalb sind nicht nur wir, sondern auch die bebenerprobten Japaner, immer wieder erleichtert, wenn nach ein paar Sekunden die Welt wieder still liegt.
Kitakami selbst - der Name bedeutet sinngemäß „oben im Norden“, die Stadt liegt jedoch etwas südlicher als Madrid - ist, wie die meisten japanischen Städte, eine skurrile Mischung aus Beton, Neon und Plastik, die Straßen erinnern an amerikanische suburbs, überall Supermärkte, Autohändler, Baumärkte. Nur hie und da kleine Oasen der Ruhe und Schönheit, da ein Tempel mit seinem baumreichen Garten, dort ein im klassisch japanischen Stil gestalteter Park. Es läßt sich gut leben hier, zu kaufen gibt es alles, was man braucht, nach ein bißchen Suchen: vom französischen Croissant über Babygläschen (etwas andere Menüs als bei uns) bis hin zu Ritter-Sport-Schokolade und Vollkornmehl. Und obwohl die meisten Japaner ihre Lebensmittel in gigantischen, hervorragend sortierten Supermärkten kaufen, gibt es doch einen kleinen Bioladen und einen Biobauern, der uns wöchentlich eine Kiste mit frischem Gemüse ins Haus bringt.
Nach sieben Monaten im Land fällt die Bilanz mehr als positiv aus: Noch immer sind wir erstaunt, wie schnell man sich zuhause fühlen kann in diesem Land, dessen Sprache wir erst teilweise verstehen, und wie wenig konkrete Schwierigkeiten die Übersiedelung hierher brachte (eine davon war anfangs, daß ausländische Kreditkarten fast nirgends akzeptiert werden; mittlerweile, dank japanischem Konto, ist dies kein Problem mehr). Ein bißchen kompliziert sind Arztbesuche, erstaunlich wenige Ärzte sprechen englisch, aber zum Glück waren bisher nur die Routinechecks beim Kinderarzt fällig, und da fanden sich immer freiwillige Dolmetscher aus dem Bekanntenkreis.
Überraschend auch, daß das Leben in dieser ländlichen Gegend viel billiger ist als erwartet, nach allem, was man so hört über Japan – was aber meist eher für die Großstädte gilt. Und schön ist, daß es trotz der sich einstellenden Vertrautheit mit dem Leben hier immer noch täglich neue Dinge gibt, die einen staunen oder schmunzeln lassen: Etwa die jetzt überall auf Balkons, Wäschestangen und Geländern zum Trocknen aufgehängten Rettiche und Kakis, letztere aufgefädelt wie Perlen auf der Schnur. Sie werden so für den Winter haltbar gemacht. Oder die unzähligen, in Europa nie zuvor gesehenen Automodelle, die seltsame Namen tragen wie Platz, Vitz, Opa, oder Naked (von Toyota und Daihatsu) – westlich klingende Namen sind en vogue. Und vieles mehr.
Die wirklich einzige kleine Sorge ist jetzt die, wie der lange Winter wird; vier Monate „Ski und Rodel gut“, aber bei mäßiger Heizung – wir sind gespannt! Und freuen uns auf den nächsten Sommer, der ist hier deutlich wärmer als in Deutschland. Und wie ist das dort mit Weihnachten? fragen jetzt vielleicht einige Leser. „kurisumasu“ (vom englischen Christmas) ist beliebt: Seit Ende Oktober prangt in den Geschäften die Weihnachtsdekoration, inklusive Beschallung mit „Jingle Bells“ und „Stille Nacht“. Und es stapeln sich fertig verpackte Geschenksets, wie z.B. eine Jahresdosis Waschmittel, ein 5er-Set Sojasauce oder drei verschiedene Instantkaffees, alles aufwendig verpackt. Denn Weihnachten ist nur für die ca. 1 % Christen in der Bevölkerung ein religiöses Fest. Für die übrigen 99 % ist es in erster Linie ein schöner Anlaß zum Konsumieren und Schenken. Gefeiert wird bei den meisten Japanern dann erst zum Jahreswechsel: Hier wird Neujahr im trauten Familienkreis begangen, mit gutem Essen und besinnlicher Stimmung. In der Skala der Familienfeste entspricht es durchaus dem europäischen Weihnachstfest. Und eines haben hier in Nordjapan Weihnachten und Neujahr gemeinsam: Ein weißes Fest ist garantiert. Dieser Dezember brachte schon gute 40 cm Schnee, und fast täglich werden es mehr.

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